Nunchaku-Jutsu im Matayoshi Kobudo: Geschichte, Technik und das Jinbukan-Dojo
Historische Ursprünge des Nunchaku in Okinawa
Die genauen Ursprünge des Nunchaku liegen im Dunkeln, doch existieren mehrere Theorien. Einer Überlieferung nach sollen Frauen das Nunchaku nach der Unterwerfung des Ryukyu-Königreichs durch den Satsuma-Klan (vor rund 380 Jahren) als Waffe zur Selbstverteidigung entwickelt haben. Demnach diente ein Gerät zum Abziehen von Bananenfaser-Rinde (Abaca) als Vorbild, was zur Idee führte, zwei Holzstücke mit einem flexiblen Verbindungsstück zu koppeln. Interessanterweise existierte in Fuzhou (China) eine ähnliche Waffe namens Nisetsu Kon bzw. Ryosetsu Kon (Zwei-Segment-Stock), im lokalen Dialekt „Nunchaku“ genannt, deren Techniken eine lange Geschichte haben und dem Sansetsu Kon (Drei-Segment-Stock) ähneln. Eine andere Theorie betont hingegen einen landwirtschaftlichen Ursprung: Das Nunchaku könnte aus einem Pferdezaumzeug (als Verbindung) und einem Dreschflegel zum Körnerstampfen entstanden sein. Wahrscheinlich flossen sowohl lokale Ideen als auch Einflüsse aus China in die Entwicklung ein. Sicher ist, dass sich das Nunchaku als Teil des Okinawa-Kobudo im Laufe der Zeit auf den Ryukyu-Inseln verbreitete und von Generation zu Generation weitergegeben wurde.
Einbindung des Nunchaku in das Matayoshi Kobudō-System
Im Matayoshi-Kobudō – einem traditionellen Waffensystem, das von der Matayoshi-Familie begründet wurde – nimmt das Nunchaku einen festen Platz im Curriculum ein. Der Stilgründer Matayoshi Shinkō (1888–1947) lernte Nunchaku-Jutsu in jungen Jahren unter Meister Irei in Nozato (Chatan) und integrierte diese Waffe neben vielen anderen in sein Kobudō-System. Sein Sohn Matayoshi Shinpō (1921–1997) führte das Erbe fort und unterrichtete Nunchaku gemeinsam mit den klassischen Bauernwaffen Okinawas. Ab den 1960er-Jahren lehrte Matayoshi Shinpō Kobudō in seinem Dojo (Kodokan) und gründete 1972 sogar einen Verband (Zen Okinawa Kobudō Renmei), um die Verbreitung der Waffenkünste zu fördern. Durch Shinpōs Unterricht und Demonstrationen – häufig in Karate-Dōjōs und auf internationalen Lehrgängen – fand das Matayoshi-Kobudō (einschließlich des Nunchaku) weltweit Verbreitung, sodass heute geschätzt über 2000 Dōjō existieren. Innerhalb der Systematik des Matayoshi-Kobudō wird das Nunchaku oft als vierte Hauptwaffe (nach Bō, Sai und Tonfa) unterrichtet und besitzt einen eigenen Kata-Lehrplan. Diese Einbindung gewährleistet, dass die Nunchaku-Techniken im Kontext der anderen Waffen in Einklang stehen und Teil eines ganzheitlichen Systems von Kobudō-Fertigkeiten sind.
Relevante Nunchaku-Kata im Matayoshi-Stil
Das Matayoshi-Kobudō umfasst mindestens eine formal festgelegte Kata für das Nunchaku, oft schlicht als “Nunchaku no Kata” (ヌンチャクの型) oder “Matayoshi no Nunchaku” bezeichnet. Diese Kata dient dazu, die fundamentalen Angriffs- und Abwehrtechniken mit dem Nunchaku in einer abgestimmten Abfolge zu üben. Sie beinhaltet Hiebe, Blockaden und Schwünge in verschiedenen Richtungen, kombiniert mit traditionellen Stellungen und Schrittfolgen. Auffällig ist, dass die Bewegungsführung im Matayoshi-Nunchaku nicht auf simplen Achten basiert, wie in manch anderen Stilen, sondern gezielte Schläge aus verschiedenen Winkeln enthält. Das Herzstück der Form besteht aus zwei geraden Vorwärts-Schlägen und zwei diagonalen Hieben, welche die vier „Ecken“ des Körpers abdecken (oberhalb der linken und rechten Schulter sowie unterhalb der linken und rechten Hüfte). Dadurch lernt der Übende, in alle Richtungen effektiv zu schlagen, anstatt das Nunchaku nur mit kreisenden Schwüngen zu führen. Die Kata schult Timing, Präzision und die Kontrolle der Zentrifugalkraft der Waffenenden. Sie enthält zudem typische Übergänge und Deckungsbewegungen, welche die Verteidigung gegen Angriffe simulieren.
Über die Solo-Form hinaus legt das Matayoshi-Kobudō Wert auf Anwendungen (Bunkai) und Partnerübungen. Fortgeschrittene Praktizierende üben z.B. zweckgebundene Drills, in denen Nunchaku gegen Bō eingesetzt wird (sogenannte Renzoku Kumite), um Distanzgefühl und Reaktionsfähigkeit mit der flexiblen Waffe zu entwickeln. Insgesamt sind die Kata und Übungen im Matayoshi-Stil darauf ausgelegt, traditionelle Technik mit praktischer Anwendbarkeit zu verbinden. Jede Bewegung im Nunchaku-Kata hat ihre Bedeutung – sei es das Abwehren eines gegnerischen Stocks, das Einklemmen einer gegnerischen Waffe oder das schnelle Umschalten von Angriff zu Verteidigung. Für fortgeschrittene Kobudōka mit Erfahrung in anderen Waffensystemen eröffnet die Matayoshi-Nunchaku-Kata so einen tiefen Einblick in die Dynamik und Möglichkeiten dieser unscheinbaren, aber effektiven Waffe.
Technische Aspekte: Aufbau und Varianten des Nunchaku
Ein traditionelles Okinawa-Nunchaku besteht aus zwei stabilen Holzstücken (häufig aus roter Eiche) von etwa 30 cm Länge, die an einem Ende durch ein kurzes Seil (himo) oder eine Kette verbunden sind. Im Matayoshi-Kobudō werden meist runde (maru-gata) oder achteckige (hakkakukei) Griffstücke gleicher Länge verwendet, da diese gut in der Hand liegen und die Schlagenergie effektiv übertragen. Die Verbindung besteht klassischerweise aus starkem Seil; alternativ wird in modernen Varianten auch eine Metallkette genutzt. Interessanterweise kennen die Okinawaner auch den Einsatz einer längeren Verbindung aus Rattanranke (kanda): Damit lässt sich z.B. beim Fesseln eines Gegners eine Art “Okinawanische Handschelle” anlegen, indem man dessen Hände oder Waffen mit dem Nunchaku umschnürt.
Neben dem Standard-Nunchaku mit zwei gleich langen Griffen gibt es mehrere Varianten. Matayoshi-Kobudō lehrt zum Beispiel spezielle Formen mit asymmetrischen Griffstücken, wobei ein Handteil nur halb so lang ist wie der andere. Auch verkleinerte Versionen – beide Griffe nur halb so groß wie normal – sind bekannt, ebenso wie der Han-kei Nunchaku, bei dem der Durchmesser der Stöcke reduziert ist, sodass die beiden Hälften bündig aneinander gelegt werden können (praktisch für verdecktes Tragen). Für fortgeschrittene Schüler existieren sogar Mehrfachsegmente: Sansetsu-kon (Dreiteiler) und seltene Viererteile, welche die Flexibilität noch steigern und komplexe Techniken erfordern. Der Sansetsu-kon – im Matayoshi-System mit zwei Kata vertreten – gilt als eng verwandt mit dem Nunchaku und teilt einige Techniken, verlangt aber aufgrund seiner Länge und zusätzlichen Gelenke eine noch ausgefeiltere Kontrolle. Terminologisch wird das Nunchaku übrigens in Okinawa manchmal auch Sōsetsu-kon (双節棍, „Zwei-Teile-Stock“) genannt, im Gegensatz zum Sansetsu-kon („Drei-Teile-Stock“). Zusammenfassend bietet das Nunchaku technisch eine erstaunliche Bandbreite: von schnellen, peitschenartigen Schlägen über wirbelnde Blocks bis hin zu Grifftechniken zum Einfangen gegnerischer Waffen – all dies aufbauend auf einem scheinbar simplen Design aus zwei Stöcken und einer Schnur.
Die Matayoshi-Meister: Shinkō und Shinpō Matayoshi
Die Verankerung des Nunchaku im Matayoshi-Kobudō ist untrennbar mit den Verdiensten von Sensei Matayoshi Shinkō und seinem Sohn Matayoshi Shinpō verbunden. Shinkō Matayoshi – in Okinawa auch ehrfurchtsvoll „Kama no Matayoshi“ (Matayoshi, der [Meister der] Kama) genannt – war ein weitgereister Kampfkunstexperte. Er sammelte im frühen 20. Jahrhundert Kenntnisse in unzähligen Waffen: vom Bō und Sai bis hin zu exotischeren Geräten wie Tinbei (Schild) und Suruchin (Gewichtskette). Wichtig für das Nunchaku: Shinkō lernte diese Kunst als Teil seines Kobudō-Studiums bei Meister Irei Chōfu und führte sie in sein Familien-System ein. Sein Können demonstrierte er auch öffentlich – unter anderem zweimal vor Mitgliedern des japanischen Kaiserhauses (1915 in Tokyo und 1921 in Okinawa), wo er Kobudō-Waffen vorführte. Obwohl das Nunchaku in diesen historischen Vorführungen nicht explizit genannt wird, zeigen sie doch, welches Ansehen Matayoshi Shinkō als Kobudō-Meister genoss.
Nach Shinkōs Tod 1947 übernahm Matayoshi Shinpō die Aufgabe, das Kobudō-Erbe zu bewahren. Shinpō modernisierte und systematisierte das Familien-Kobudō, ohne dessen traditionelle Wurzeln zu verlassen. 1960 gründete er in Naha sein Dojo Kodokan („Halle des Lichts“ – benannt zu Ehren seines Vaters Shinkō, dessen Name „Wahres Licht“ bedeutet). Von hier aus begann er, Kobudō wieder breiter zu verbreiten, da er erkannte, dass Karate zwar boomte, die Waffenkunst jedoch ins Hintertreffen geriet. Shinpō initiierte schließlich die Ryukyu Kobudo Association, die wenig später in der bereits erwähnten Zen Okinawa Kobudō Renmei (All-Okinawa Kobudō Föderation) aufging. Durch diese organisatorischen Schritte und unermüdliches Unterrichten stellte er sicher, dass auch Nunchaku-jutsu an die nächste Generation weitergegeben wurde. Viele seiner Schüler wurden selbst Meister – darunter auch der spätere Jinbukan-Gründer Kanei – und verbreiteten das Matayoshi-Kobudō international weiter. Matayoshi Shinpō verstarb 1997, doch sein Wirken hat ein lebendiges Netzwerk von Kobudō-Schulen hinterlassen, in denen bis heute die Lehren von Shinkō und Shinpō (einschließlich der Nunchaku-Kata) gepflegt werden.
Sensei Katsuyoshi Kanei und das Dōjō Jinbukan
Ein herausragender Schüler Matayoshi Shinpōs war Sensei Katsuyoshi Kanei (1941–1993), der später durch sein eigenes Wirken die Kunst des Nunchaku und des Kobudō weiter formte. Kanei wurde während des Zweiten Weltkriegs in China geboren, wuchs aber in Okinawa auf und erlernte sowohl Karate (Goju-Ryu) als auch Kobudō. Unter Matayoshi Shinpōs Anleitung entwickelte er sich zu einem äußerst versierten Waffenkünstler – manchen Zeitzeugen galt er gar als einer der besten seines Fachs. 1967 gründete Kanei in Chibana, Okinawa, sein eigenes Kobudō-Dōjō mit dem Namen Jinbukan (wörtlich etwa „Halle der göttlichen Kampfkunst“). Er wählte diesen Namen, um den Trainingsort als einen Ort mit besonderem geistigem Anspruch zu kennzeichnen („Jin“ = das Erhabene/Heilige, „Bu“ = Kriegskunst, „Kan“ = Halle). Im Jinbukan unterrichtete Kanei fortan das Matayoshi-Kobudō, wobei er als talentierter Pädagoge bekannt war. Eine seiner Innovationen bestand darin, den traditionellen Kata eine systematische Grundschule (Kihon) voranzustellen: Er ließ Schüler zunächst isolierte Basis-Techniken üben, bevor sie diese in langen Kata-Sequenzen anwenden mussten. So konnten auch komplexe Bewegungen – etwa schnelle Schlagfolgen mit dem Nunchaku – schrittweise erlernt werden, was die Lernkurve deutlich verbesserte.
Kanei war nicht nur Dōjō-Leiter, sondern engagierte sich auch organisatorisch. Er fungierte zeitweise als Vizepräsident der Okinawa Kobudō Association unter Matayoshi Shinpō, was seinen hohen Status in der Kobudō-Gemeinschaft verdeutlicht. Zudem war er ein Bindeglied zwischen Karate und Kobudō: Mit seinem Jugendfreund Shinjo Masanobu (einem Goju-Ryu-Karate-Meister) verband ihn die gemeinsame Vision, umfassend ausgebildete Budōka hervorzubringen. Katsuyoshi Kanei verstarb leider schon 1993 plötzlich und unerwartet im Alter von nur 52 Jahren. Sein Erbe lebt jedoch im Jinbukan weiter: Heute wird das Dōjō von seinem Sohn, Kanei Hitoshi, geleitet, der die Tradition seines Vaters fortführt. Auch international hat Kaneis Arbeit Spuren hinterlassen – zahlreiche seiner direkten Schüler verbreiten das Jinbukan-Kobudō in Europa, Amerika und anderen Teilen der Welt.
Besonderheiten des Jinbukan-Ansatzes im Matayoshi Kobudō
Das Jinbukan-Kobudō unter Sensei Kanei zeichnet sich durch einige Besonderheiten aus, die es von anderen Matayoshi-Schulen unterscheiden. Zunächst ist hervorzuheben, dass Kanei einen integrativen Ansatz verfolgte: Er kombinierte die Lehren zweier großer Kobudō-Meister seiner Zeit – Matayoshi Shinpō und Taira Shinken – zu einem umfassenden Curriculum. Taira Shinken (1897–1970) war Begründer eines parallelen Kobudō-Stils, und viele seiner Formen (etwa bestimmte Bō- und Sai-Kata) unterscheiden sich von den Matayoshi-Versionen. Indem Kanei Elemente beider Linien verschmolz, deckt das Jinbukan-System ein breiteres Waffenspektrum ab und bietet teils alternative Kata. So flossen vermutlich auch Variationen der Nunchaku-Kata ins Jinbukan ein – beispielsweise ist in Tairas Tradition eine Form namens Maezato no Nunchaku überliefert, benannt nach Tairas Geburtsnamen Maezato. Das Jinbukan hält sich zwar im Kern an die Matayoshi-Techniken, bereichert diese jedoch um weitere Übungen und Perspektiven.
Darüber hinaus legt der Jinbukan-Ansatz, wie oben erwähnt, großen Wert auf systematisches Grundlagen-Training. Anfänger durchlaufen intensive Übungseinheiten zu Schlägen, Blöcken und Schwüngen (auch mit Hilfsmitteln, z.B. wird gelegentlich ein Handtuch als Ersatz für die Nunchaku-Verbindung verwendet, um gewisse Drills sicherer zu gestalten). Erst wenn die Schüler die Kontrolle über das Werkzeug entwickelt haben, gehen sie zu den kompletten Kata über. Diese methodische Herangehensweise unterscheidet das Jinbukan von manch traditioneller Schule, wo oft früh Kata gelehrt wird und der Schüler die Feinheiten implizit daraus ziehen muss.
In der Unterrichtsstruktur des Jinbukan spiegelt sich Kaneis Erfahrung als Karate-Lehrer wider: Es gibt klare Prüfungsprogramme, in denen Nunchaku-Kata, Partnerformen und Bruchtests (Tameshiwari) festgelegt sind, angelehnt an die Vorgaben von Kanei Sensei selbst. Auch im Dojo-Etikette und den Prinzipien (Dojo-Kun) betont das Jinbukan die Einheit von technischem Können und Charakterbildung – wie es in der Okinawa-Tradition üblich ist.
Nicht zuletzt pflegt das Jinbukan den Austausch mit anderen Organisationen. Nach dem Tode von Matayoshi Shinpō im Jahr 1997 zersplitterte die Kobudō-Gemeinde in mehrere Verbände. Das Jinbukan behauptete dabei seinen Platz als eine der führenden Schulen, indem es die Balance zwischen Bewahrung der Matayoshi-Lehre und Offenheit für Innovation hielt. Für fortgeschrittene Kampfkünstler mit Vorerfahrung in traditionellen Waffensystemen bietet der Jinbukan-Ansatz somit eine spannende Variante: Er vermittelt die Essenz des Matayoshi-Nunchaku-Jutsu, ergänzt um die pädagogischen und technischen Feinjustierungen, die Sensei Kanei eingeführt hat. Wer sich eingehender mit Nunchaku im Kontext des Matayoshi-Kobudō beschäftigen möchte, findet im Jinbukan eine Quelle reichhaltigen Wissens und praxisorientierter Übung.
Fazit: Das Nunchaku-Jutsu im Matayoshi-Kobudō verbindet historische Tiefe mit effektiver Technik. Vom Ursprung als improvisierte Bauernwaffe bis zur heutigen Ausprägung in sorgfältig gelehrten Kata und Anwendungen zeigt sich die Wandlungsfähigkeit dieser Waffe. Insbesondere unter der Ägide von Meistern wie Matayoshi Shinpō und Katsuyoshi Kanei wurde das Wissen bewahrt und weiterentwickelt. Für fortgeschrittene Budōka bietet die Beschäftigung mit dem Matayoshi-Nunchaku – ob in der Kodokan-Linie oder im Jinbukan – einen wertvollen Einblick in die Vielfalt der okinawanischen Kampfkunst. Jeder Schlag mit dem Nunchaku erzählt ein Stück Geschichte und spiegelt die Philosophie wider, die hinter dieser einzigartigen Waffe steht.