Was ist Kobudo?
Kobudō (jap. 古武道, „alte Kampfkunst“) bezeichnet die traditionelle Waffen-Kampfkunst Okinawas. Diese Disziplin umfasst den Umgang mit einfachen, ursprünglich alltäglichen Werkzeugen – etwa Holzstäben, Sicheln oder Rudern – die in Jahrhunderten der Besatzung zu wirkungsvollen Waffen weiterentwickelt wurden. In diesem Blogartikel erfahren Sie, wie aus Bauernwerkzeugen Waffen wurden, welche klassischen Kobudo-Waffen es gibt und wie Kobudo sich historisch entwickelt hat. Außerdem beleuchten wir wichtige Schulen des Okinawa-Kobudo – mit besonderem Fokus auf das Jinbukan Kobudo von Katsuyoshi Kanai – und betrachten die moderne Verbreitung dieser Kampfkunst weltweit.
Ursprung und Geschichte des Kobudo
Kobudo entstand im Ryūkyū-Königreich (dem heutigen Okinawa) vermutlich ab dem 15. bis 16. Jahrhundert. In jener Zeit war den Einwohnern Okinawas das Tragen von Schwertern und anderen Waffen von den Herrschern streng verboten. Sowohl die einheimischen Könige (etwa Shō Shin um 1500) als auch später die japanischen Besatzer (das Satsuma-Clan im 17. Jh.) unterbanden Waffenbesitz und öffentlichen Kampfkunstunterricht. Die Bauern und Fischer Okinawas sahen sich dadurch wehrlos Räubern, Piraten und den bewaffneten Samurai der Besatzungsmacht ausgeliefert. Aus der Not heraus begannen sie, alltägliche Werkzeuge zur Selbstverteidigung einzusetzen: So wurde beispielsweise der Dreschflegel zum Nunchaku, ein einfacher Stock zum Bō (Langstock) und der hölzerne Mühlstein-Griff zum Tonfa umfunktioniert. Auf ähnliche Weise zweckentfremdeten die Inselbewohner viele Gerätschaften (Schaufeln, Sensen, Ruderruder u.a.), da diese äußerlich nicht als Waffen erkennbar waren und somit vom Verbot ausgenommen blieben.
In Okinawa entwickelte sich Kobudo über Jahrhunderte parallel zum Karate und wurde traditionell als integraler Teil der Kampfkunst gesehen. Die Haltung, Schläge und Blocktechniken im Kobudo entsprechen oft denen des waffenlosen Karate. Ein altes okinawanisches Sprichwort besagt: „Ein Karateka, der keine Kobudo-Waffen beherrscht, ist wie ein Baum, der keine Früchte trägt“. Bis ins 19. Jahrhundert wurde Karate und Kobudo meist gemeinsam und im Verborgenen unterrichtet. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts kam es zur Öffnung und Systematisierung: Meister Yabiku Moden gründete 1925 den ersten Kobudo-Verband (Ryukyu Kobujutsu Kenkyu Kai), und sein Schüler Taira Shinken sammelte und codifizierte bis Mitte des 20. Jahrhunderts die klassischen Kobudo-Kata. Taira gilt als Schlüsselfigur des modernen Kobudo – seine Rolle für die Waffenkunst ist vergleichbar mit der von Gichin Funakoshi für das Karate in Japan selbst.
Eine weitere wichtige Linie begründete Matayoshi Shinkō (1888–1947), ein Meister, der auf Reisen in China zahlreiche Waffentechniken erlernte und ein umfassendes System zusammenstellte. Sein Sohn Matayoshi Shinpō (1921–1997) führte diese Tradition fort und trug wesentlich dazu bei, Kobudo weltweit bekannt zu machen. Matayoshi Shinpo eröffnete 1969 ein eigenes Dōjō (Kodokan) in Naha und gründete 1970 die Ryūkyū Kobudō Renmei (Kobudo-Föderation). Er unternahm unzählige Vorführungsreisen und Seminare rund um den Globus und bildete eine Generation von Meistern aus, die Okinawa-Kobudo in viele Länder trugen. Dank solcher Bemühungen überlebte Kobudo die schweren Zeiten nach dem Zweiten Weltkrieg und erlebte international eine Renaissance, während es auf Okinawa stets als Kulturgut bewahrt wurde.
Vom Werkzeug zur Waffe: Die traditionellen Kobudo-Waffen
Ein Kennzeichen des Okinawa-Kobudo ist die Wandlung einfacher Alltagsgegenstände zu effektiven Waffen. In der Regel waren es landwirtschaftliche Geräte oder Gebrauchsobjekte, die durch spezielle Techniken als Kampfwaffen eingesetzt wurden. Im Folgenden stellen wir die bekanntesten Kobudo-Waffen vor – ihren Ursprung, ihr Aussehen und typische Techniken im Einsatz.
Bō (Langstock)
Ein okinawanischer Bō aus rotem Eichenholz (Ausschnitt). Der Bō ist etwa 1,80 m lang und an den Enden oft leicht verjüngt.
Der Bō ist ein ca. 180 cm langer Stab aus Hartholz (meist Roteiche oder Weißeiche). Diese Waffe gilt als „König der Okinawa-Waffen“, da der Langstock eine der ältesten und vielseitigsten Waffen überhaupt ist. Historisch entwickelte sich der Bō vermutlich aus dem Tenbin, einem Tragstock, den Bauern über die Schulter legten, um an den Enden Eimer oder Bündel zu tragen. Auch der Stiel eines Rechens oder einer Schaufel konnte zum Bo werden, und Reisende (etwa Mönche) nutzten Wanderstäbe zur Selbstverteidigung – all dies floss in die Kunst des Bōjutsu ein.
In der Anwendung dient der Bō sowohl offensiv als auch defensiv: Durch seine Reichweite erlaubt er weite Schwungtechniken, Stoßattacken und Schläge mit beiden Enden. Gleichzeitig kann der Stock zum Blocken gegnerischer Angriffe eingesetzt werden. Typische Bo-Techniken umfassen kraftvolle Hiebe aus der Hüfte, schnelle Drehstöße und fegende Schlagfolgen, die große Distanzen überbrücken. Anfänger erlernen zunächst Grundtechniken (Schläge in alle Richtungen, Abwehrhaltungen etc.), bevor sie komplexe Bo-Kata trainieren. Traditionell bildet der Bo oft die erste Waffe im Kobudo-Training, da seine Bewegungen als Grundlage für viele andere Waffen dienen.
Sai (Dreizack-Gabel)
Zwei traditionelle Sai aus Okinawa. Die Sai sind metallene, u-förmige Stichwaffen mit drei Spitzen (hier eine größere achteckige und eine kleinere Variante).
Die Sai ist eine markante Okinawa-Waffe aus Metall – sie ähnelt einer kurzen Dreizack-Gabel mit mittlerer Spitze und zwei seitlichen Parierstangen. Im Gegensatz zu einem Messer besitzt die Sai keine Schneide, sondern nur an den Spitzen angespitzte Enden. Die Form lässt vermuten, dass sie ursprünglich als Polizei- oder Gerichtswaffe diente; oft trugen okinawanische Wachleute oder Dorfbüttel zwei Sai an der Hüfte, um Unruhestifter zu entwaffnen. Eine verbreitete Legende, die Sai seien aus bäuerlichen Handrechen entstanden, ist hingegen unwahrscheinlich – Metall war auf Okinawa rar, daher wäre ein hölzerner Rechen praktischer gewesen. Vermutlich wurden die Sai als fertige Waffen aus dem asiatischen Raum importiert oder lokal für Behörden geschmiedet.
Sai werden meist paarweise geführt, wobei oft eine dritte Sai als Ersatz am Gürtel getragen wurde. In der Anwendung nutzt man die Sai zum Blocken gegnerischer Waffen und zum Fangen oder Abklemmen derselben zwischen den Zinken. Beispielsweise kann ein geschickter Kämpfer mit der Sai einen gegnerischen Bo-Stab parieren und mittels einer Drehbewegung in den seitlichen Zinken fixieren, um ihn zu kontrollieren oder zu zerbrechen. Darüber hinaus dienen Sai zum Schlagen (mit dem stumpfen Knauf am Griffende) und Stechen (mit der vorderen Spitze). Typisch sind schnelle, rotierende Bewegungen: Der Kämpfer kann die Sai mit geübtem Griff um die Finger wirbeln, um blitzschnell von einer Block- in eine Stichposition zu wechseln. Diese Wirbeltechniken und das gleichzeitige Führen von zwei Waffen machen das Sai-Jutsu anspruchsvoll. Dennoch sind Sai durch ihr Gewicht und ihre Stabilität sehr effektive Nahkampfwaffen, die sogar Schwerthieben standhalten. Varianten wie die Manji-Sai (mit asymmetrisch entgegengesetzten Parierstangen) wurden ebenfalls in Okinawa entwickelt, um spezifische Techniken zu ermöglichen.
Tonfa (Tunkuwa, Seitengriffstock)
Paar Okinawa-Tonfa aus Holz. Deutlich zu erkennen ist der seitliche Griff, der ursprünglich einem Mühlstein als Kurbel diente.
Der Tonfa ist ein etwa 50–60 cm langer Seitengriffstock. Er besteht aus einem geraden Holzstab und einem rechtwinklig angebrachten Griff nahe einem Ende. Diese Konstruktion hat ihren Ursprung vermutlich in einem Griffstück von Mühlsteinen: Auf Okinawa war eine hölzerne Kurbel (Tunkuwa) üblich, um manuelle Mühlen zum Reiskörner- oder Getreidemahlen anzutreiben. Entfernt man die Kurbel aus dem Stein, hält man einen stabilen Stock mit Quergriff in der Hand – den Prototyp des Tonfa. Ähnliche Geräte wurden auch als Wagenkurbel oder Türangel eingesetzt, was erklären könnte, wie Bauern solche Gegenstände unauffällig mitführen konnten.
Traditionell werden Tonfa als Paar verwendet. Der Kämpfer hält jeweils einen Tonfa am kurzen Griff, wobei der lange Schaft eng am Unterarm anliegt und diesen nach vorne überragt. In dieser Haltung dient der Tonfa wie ein Schild zum Blocken von Schlägen – der Unterarm wird durch das Holz geschützt. Durch blitzartiges Drehen an der Griffstange kann der lange Schaft jedoch nach außen geschleudert werden und zu einem verlängerten Schlagarm werden. Tonfa-Techniken kombinieren daher Abwehr und Angriff fließend: Ein typisches Muster ist, einen gegnerischen Schlag mit dem Tonfa-Schaft am Unterarm zu parieren und im selben Zug den Tonfa nach vorne zu drehen, um mit dem hervor schnellenden Ende zurückzuschlagen. Auch Stoßtechniken mit dem Knauf (Ende des Griffs) auf empfindliche Körperstellen sind üblich.
Moderne Polizisten-Tonfas (Seitenhandstock) wurden vom okinawanischen Tonfa inspiriert – allerdings nutzen viele Polizeischulen den Tonfa eher einzeln und anders als im traditionellen Kobudo. Im klassischen Tonfa-Kata werden komplexe Kombinationen aus Wirbeln, Schlägen mit beiden Stöcken und synchronisierten Blocktechniken gezeigt. Es erfordert Kraft im Handgelenk und Timing, um zwei Tonfa gleichzeitig zu bändigen – beherrscht man es, bieten die Tonfa jedoch exzellente defensive und offensive Möglichkeiten auf kurze Distanz.
Kama (Sichel)
Die Kama ist ursprünglich eine einfache Handsichel, wie sie zum Ernten von Reis und Getreide verwendet wurde. Sie besteht aus einem kurzen hölzernen Griff (20–40 cm) und einem gebogenen Metallblatt mit scharfer Schneide, ähnlich einer kleinen Sense. Auf Okinawa waren Reissicheln allgegenwärtige Werkzeuge, die in ländlichen Gegenden leicht verfügbar waren – und im Ernstfall als Waffen dienen konnten. Im Kobudo zählt die Kama jedoch zu den schwierigsten und gefährlichsten Waffen in der Handhabung. Der Grund liegt auf der Hand (im wahrsten Sinne): Man schwingt hier eine scharfe Klinge mit hoher Geschwindigkeit in der Nähe des eigenen Körpers. Ein kleiner Fehler kann zu Selbstverletzung führen. Daher üben Anfänger zunächst mit stumpfen oder hölzernen Übungskama, bis sie die Bewegungen sicher beherrschen.
Im Kama-Jutsu werden häufig zwei Kama gleichzeitig geführt, was eine beeindruckende, aber komplexe Kampfdynamik ergibt. Die Sichel kann zum Schneiden und Schlitzen eingesetzt werden – etwa gegen gegnerische Gliedmaßen oder Holzwaffen. Fortgeschrittene Formen nutzen die gebogene Klinge auch zum Einhaken: So lässt sich z.B. ein gegnerischer Stock mit der Innenkurve der Kama blockieren und beiseite ziehen. Einige traditionelle Kama-Designs besaßen an der Klingenbasis sogar eine kleine Öse oder einen Haken, mit dem man einen Bo fixieren konnte. Allerdings stellte sich diese Konstruktion als Schwachstelle heraus (Bruchrisiko am Übergang zum Griff), weshalb moderne Kampfsicheln oft ohne ausgeprägten Haken gefertigt werden. Typische Kama-Techniken kombinieren fließende, kreisende Bewegungen – mit denen der Anwender Schnitte aus verschiedenen Winkeln führen kann – und akrobatische Manöver. In manchen Kata springen die Kämpfer in die Luft und vollführen gleichzeitig diagonale Doppelschnitte mit beiden Sicheln. Solche Vorführungen sind spektakulär, aber sie unterstreichen den ernsthaften Charakter der Kama: In geübter Hand sind die Sicheln tödliche Waffen, die Angriffe aus allen Richtungen abwehren und austeilen können.
Eku (Paddel)
Die Eku (auch Eiku oder Okinawa-Ruder) ist eine ungewöhnliche Kobudo-Waffe, die ihre Herkunft deutlich erkennen lässt: Es handelt sich um ein hölzernes Ruderblatt der Fischer und Bootsmänner Okinawas. Eine Eku ähnelt auf den ersten Blick einem Bo-Stab, ist aber an einem Ende verbreitert zu einem flachen Paddel. Typischerweise ist ein Eku etwas länger als ein Bo (häufig über 180 cm) und besitzt eine einseitig abgeschrägte Blattkante sowie eine leicht spitz zulaufende Spitze. Zudem ist eine Seite des Blattes oft leicht gewölbt, die andere hat eine mittige Gratrippe – dies erhöht die Stabilität und verleiht bestimmten Techniken einen Drall.
Als Waffe vereint die Eku Eigenschaften des Bo mit einzigartigen Möglichkeiten: Man kann sie wie einen Langstock schwingen und stoßen, profitiert jedoch von der Masse des Ruderkopfes, der bei Schlägen enormen Druck ausübt. Ein geübter Kämpfer kann mit dem flachen Ruderblatt hiebende Schläge führen, die durch die Kante fast die Wucht einer Klinge entfalten. Gleichzeitig erlaubt die Eku breite, fegende Bewegungen – man denke ans Rudern: Der ganze Körper wird eingesetzt, um das Paddel in einem Bogen zu bewegen, was im Kampf zum Fegen der Beine oder zum Zurückdrängen mehrerer Gegner dienen konnte. Eine besonders kreative Technik ergibt sich aus der ursprünglichen Einsatzumgebung am Strand: Der Legende nach nutzten Fischer mit der Eku die Möglichkeit, Sand aufzuf wirbeln und dem Gegner ins Gesicht zu schleudern, um diesen zu blenden. Dazu schabt man mit dem Paddel blitzartig über den Boden, sodass Sand Richtung Gegner spritzt – ein Trick, der in klassischen Eku-Katas tatsächlich vorkommt.
Da Eku in Friedenszeiten normale Ruder waren, konnten Fischer sie ohne Verdacht mit sich führen. Im Kobudo-Training gilt die Eku heute als fortgeschrittene Waffe. Ihre Handhabung erfordert Kraft und Timing, da das asymmetrische Gewicht das Gleichgewicht beeinflusst. Doch wer die Eku meistert, verfügt über eine formidable Waffe, die überraschende Winkel und enorme Durchschlagskraft ins Spiel bringt.
(Hinweis: Neben den genannten gibt es noch weitere traditionelle Kobudo-Waffen, z.B. das Nunchaku (zweiteiliger Schlagstock mit Kette), den Tekko (metallener Schlagring), den Suruchin (Seil mit Gewichten) oder das Tinbe-Rochin (Schild und Speer). Diese werden hier aus Platzgründen nicht vertieft, gehören aber ebenso zum reichen Waffenarsenal des Okinawa-Kobudo.)
Wichtige Kobudo-Schulen und Meister in Okinawa
Im Laufe der Zeit haben sich auf Okinawa verschiedene Stile und Schulen des Kobudo herausgebildet, oft benannt nach ihren Gründern oder besonderen Lehrern. Zwei Hauptrichtungen lassen sich unterscheiden: die Linie um Taira Shinken und die Linie um die Familie Matayoshi, aus der auch das Jinbukan-Kobudo hervorging. Im Folgenden ein Überblick über bedeutende Persönlichkeiten und Systeme:
Taira Shinken (1898–1970) – Nachdem Yabiku Moden die Kobudo-Kunst in den 1920ern öffentlich gemacht hatte, war es vor allem Taira Shinken, der die alten Kata sammelte, vereinheitlichte und ein strukturiertes Lehrsystem schuf. Er unterrichtete sowohl auf Okinawa als auch in Japan und gilt als Vater des modernen Ryūkyū Kobudō. Viele heutige Meister – ob aus Okinawa oder aus Japan – beziehen sich auf Tairas überliefertes Kata-System. Nach seinem Tod spaltete sich zwar die einheitliche Linie in mehrere Verbände, doch Tairas Vermächtnis (z.B. der Verband Ryukyu Kobudo Hozon Shinkokai und dessen Kata-Kanon) lebt bis heute fort.
Matayoshi Shinko (1888–1947) – Zeitgleich mit Taira wirkte Matayoshi Shinkō, ein außergewöhnlich vielseitiger Kampfkünstler. Er erlernte nicht nur die gängigen Kobudo-Waffen (Bo, Sai, Kama, Eku usw.) bei heimischen Meistern, sondern studierte in China zusätzlich exotische Waffen (z.B. Lasso, Dreizacklanze, Schild und Schwert) sowie andere Disziplinen wie Reitkunst, Akupunktur und einen Kung-Fu-Stil. Zurück in Okinawa kombinierte er dieses Wissen zu einem eigenen Stil, dem Matayoshi Kobudō, und lehrte es in seinem Dōjō. Sein Sohn Matayoshi Shinpō führte das Erbe weiter: Er gründete 1970 die erste okinawanische Kobudo-Föderation und systematisierte die Lehre in Formen, Kihon (Grundtechniken) und Partnerübungen. Matayoshi Shinpo’s Beitrag war vor allem die Verbreitung des Kobudo außerhalb Okinawas – er reiste in den 1970ern und 80ern oft nach Amerika und Europa, führte Vorführungen vor großem Publikum vor und bildete viele ausländische Schüler aus. Zwei seiner bekanntesten Schüler sind Kenyu Chinen und Zenei Oshiro, die in Europa (Frankreich) das Matayoshi-Kobudo etablierten. Kenyu Chinen gründete später die World Oshukai Federation (WOF), einen weltweit aktiven Matayoshi-Kobudo-Verband. Shinpo Matayoshi selbst blieb bis zu seinem Tod 1997 in Okinawa als Präsident seines Verbandes aktiv. Durch sein Wirken ist das Matayoshi-Kobudo heute auf allen Kontinenten präsent.
Katsuyoshi Kanai (Kanei) und das Jinbukan Kobudō – Eine besondere Rolle spielt Kanei Katsuyoshi (1941–1993), ein direkter Schüler von Matayoshi Shinpo. Er gründete den Stil Jinbukan Kobudo und gilt als einer der herausragenden Meister der jüngeren Generation Okinawas. Kanei hatte ursprünglich auch einen Karate-Hintergrund (Goju-Ryu) und eröffnete 1966 ein eigenes Dōjō, in dem er Karate und Kobudo unterrichtete. Zehn Jahre später errichtete er ein neues Dojo in Misato, Okinawa, das er “Jinbukan” nannte – der Name bedeutet etwa „Ort, an dem die heilige Kriegskunst geübt wird“ . Im Jinbukan-Dojo wurden Karate und Kobudo zunächst parallel gelehrt, doch Kanei erkannte, dass viele Anfänger mit den komplexen Kobudo-Kata überfordert waren. Deshalb führte er eine methodische Grundschule (Hojo Undō) für Kobudo ein: Er fügte den traditionellen Kata einfache Drill-Übungen voran, um schwierige Techniken isoliert zu üben. Dieses System erwies sich als äußerst effektiv – es erleichtert den Schülern den Zugang zu Waffenformen enorm, da sie Schritt für Schritt an die Bewegungen herangeführt werden.
Kanei Katsuyoshi war nicht nur in Okinawa anerkannt, sondern auch international hochgeschätzt. Gemeinsam mit Jamal Measara (einem seiner Schüler) gründete er den Verband Kokusai Okinawa Kobudō Kyōkai (IOKK), um Kobudo weltweit zugänglich zu machen. In den 1970er und 80er Jahren reiste Kanei im Auftrag des Matayoshi-Verbandes in viele Länder – unter anderem nach Peru, Argentinien, Frankreich, Spanien, Deutschland und Japan – um dort Kobudo-Seminare zu geben. Aufgrund seiner Expertise trug er in mehreren internationalen Organisationen hohe Dan-Graduierungen und Ämter. Man rühmte ihn insbesondere als Meister der Kama; sein Beiname lautete „Kama-Te Kanei“ („Sichel-Hand Kanei“) wegen seiner beeindruckenden Fähigkeiten mit der Sichelwaffe.
Leider verstarb Sensei Kanei 1993 plötzlich während einer Lehrreise in Peru. Sein Leichnam wurde nach Okinawa überführt und dort beigesetzt. Doch das Jinbukan Kobudo lebt weiter: Sein Sohn Kanei Hitoshi übernahm die Leitung des Heimat-Dōjō und führt den Stil fort. Der internationale Verband IOKK untersteht ebenfalls Hitoshi Kanei und widmet sich der Bewahrung des unverfälschten, traditionellen Kobudo nach Okinawa-Art. In Europa ist vor allem Jamal Measara als Repräsentant des Jinbukan Kobudo bekannt – er brachte diesen Stil in den 1980er Jahren nach Deutschland und gründete später die Shorin Ryu Seibukan Union, die Kobudo fest in ihr Curriculum aufnahm.
Neben Matayoshi und Jinbukan gibt es weitere Schulen, z.B. die von Eisuke Akamine (Nachfolger Tairas, Linie Ryukyu Kobudo), Hiroshi Tamayose (Ryukyu Kobudo Tesshinkan) u.a. Auch einige japanische Karate-Meister integrierten Kobudo in ihre Systeme – etwa Fumio Demura in den USA oder Teruo Hayashi (Shito-Ryu) in Japan. Dadurch existiert heute ein buntes Spektrum an Kobudo-Stilen, die jedoch alle auf die okinawanischen Wurzeln zurückführen.
Kobudo heute – moderne Entwicklungen und weltweite Verbreitung
In der Gegenwart hat sich Kobudo von einer einst geheimen Inselkunst zu einer international praktizierten Disziplin entwickelt. In vielen Ländern wird Kobudo inzwischen in Kampfkunstschulen unterrichtet – teils in eigenständigen Kobudo-Dōjō, oft aber auch als Ergänzungsfach innerhalb von Karate-Dōjō. Gerade in den traditionellen okinawanischen Karatestilen (Goju-Ryu, Shorin-Ryu etc.) gehört Kobudo heute wieder zum festen Curriculum, nachdem es zwischendurch in Vergessenheit geraten war. So bieten beispielsweise Verbände in Europa regelmäßige Kobudo-Lehrgänge an, und sogar in Sportkarate-Kreisen gibt es verstärkt Interesse an Waffenformen.
Wettkämpfe und Demonstrationen: Kobudo ist primär eine kunstfertige Disziplin, kein Vollkontakt-Wettkampfsport. Gleichwohl werden bei internationalen Karate-Events häufig Kobudo-Kata-Wettbewerbe ausgetragen, wo Kampfkünstler ihre Formen mit Bo, Sai, Tonfa etc. vor einer Jury vorführen. Solche Vorführungen beeindrucken durch Präzision und Dynamik und tragen dazu bei, Kobudo einem breiten Publikum bekannt zu machen. In einigen Regionen (besonders in den USA) gibt es eigenständige Kobudo-Turniere oder Vorführklassen auf Kampfkunst-Meisterschaften. Gleichzeitig bleibt Kobudo auch Teil der Kampfkunst-Festivals und Kulturveranstaltungen – zum Beispiel präsentieren Okinawa-Gruppen ihre Waffenformen regelmäßig auf dem Japan-Tag in Düsseldorf (wie 2016 auf großer Bühne). Solche Events zeigen, dass Kobudo längst über Okinawas Grenzen hinausgewachsen ist.
Verbände und Organisationen: Durch die Pionierarbeit von Meistern wie Matayoshi Shinpo und Kanei Katsuyoshi existieren heute mehrere globale Kobudo-Verbände. Die World Oshukai Federation (WOF) beispielsweise fördert das Matayoshi-Kobudo weltweit, während die International Okinawa Kobudo Association (IOKA/KOKK) das Jinbukan-Kobudo nach Okinawa-Tradition verbreitet. Auch der internationale Karate-Dachverband (WKF) hat Kobudo-ähnliche Wettbewerbe in Form von „Waffenkata“ in seine Programme integriert. In Deutschland wurde Kobudo kürzlich als eigene Stilrichtung im Deutschen Karate Verband (DKV) anerkannt, mit speziellen Trainerlizenzen und Prüfungsprogrammen . Diese institutionelle Verankerung erleichtert es, qualifizierten Unterricht anzubieten und den Austausch zwischen Kobudo-Enthusiasten zu fördern.
Weiterentwicklung: Obwohl Kobudo historisch gewachsen ist, ist es keine stagnierende Kunst. Moderne Meister respektieren zwar die traditionellen Kata und Techniken, passen aber didaktische Methoden behutsam an. So werden z.B. gepolsterte Übungswaffen eingesetzt, um Verletzungen im Training zu vermeiden, und es fließen neue Erkenntnisse der Biomechanik in die Lehrpläne ein. Einige heutige Großmeister entwickeln sogar neue Kata, um das System abzurunden – etwa kreierte Kanazawa Hirokazu (Shotokan-Legende) eine eigene Bo-Kata, um Karateka den Einstieg ins Kobudo zu ermöglichen. Dennoch bleibt das oberste Ziel die Bewahrung der Tradition. Die meisten Kobudo-Verbände legen großen Wert darauf, die Formen und Techniken „unverfälscht“ weiterzugeben , genau so, wie sie von den alten Meistern überliefert wurden.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Kobudo hat den Weg von den Reisfeldern Okinawas in die moderne Welt gefunden. Was einst eine findige Antwort der unbewaffneten Okinawaner auf Waffenverbote war, ist heute ein lebendiges Kulturerbe der Kampfkunst. Die Faszination liegt im Ineinandergreifen von Geschichte, Kultur und Technik: Jeder Schlag mit dem Bo, jeder Block mit den Sai erzählt ein Stück der Überlieferung. Und während in den Dōjōs rund um den Globus Schüler üben, einen Tonfa zu wirbeln oder eine Kama-Kata zu meistern, tragen sie unbewusst die Weisheit weiter, die in diesen alten Waffen steckt – die Weisheit, Kreativität und Können über roher Waffengewalt siegen zu lassen. Kobudo verbindet damit Vergangenheit und Gegenwart und bereichert die Kampfkunstwelt um eine einzigartige Dimension.